Im Jahr 1934 machte der Anteil der jüdischen Bevölkerung in Neubau 14,8 Prozent der Bewohner des Bezirkes aus. Ein Wert, der weit über dem Wiener Durchschnitt liegt. Das einst als „Brillantengrund“ bekannte Schottenfeld erwirtschaftete seinen Reichtum durch die Produktion von Seide, ein Gewerbe, das zur damaligen Zeit stark durch die jüdische Gemeinde geprägt war. Das mag ein Grund für die ehemals hohe Anzahl an Töchtern und Söhnen Davids im siebten Bezirk sein. Da der Mensch ein soziales Wesen ist und die Nähe von Gleichgesinnten sucht, wurde 1927 der Verein „Chewrath Binjon Chudosch“, zu Deutsch „Jüdischer Verein Neubau“ gegründet. Der Zusammenschluss erfolgte, um die kulturellen, humanitären und religiösen Interessen der einzelnen Mitglieder angemessen zu fördern. Neben der Errichtung eines Vereinsbethauses in der Schottenfeldgasse 60 wurde das gesellschaftliche Leben durch Konzerte, Vorträge und ähnliche Veranstaltungen zum Erblühen gebracht. Die Gemeinschaft kümmerte sich außerdem um die Unterstützung ihrer finanziell oder sozial schwächer gestellten Zugehörigen, so wurden Vereinsmittel unter anderem dazu genutzt, um den Familien von verstorbenen Mitgliedern unter die Arme zu greifen.
Aufgelöst, Vermögen eingezogen.
Nach der Verwüstung des Hauses in der Nacht des Novemberpogroms 1938 sorgte das nationalsozialistische Regime bereits acht Jahre nach der Eröffnung des kulturellen Treffpunktes für die Auflösung des Vereins. Das Bethaus in der Schottenfeldgasse wurde geschlossen und die monetären Mittel der jüdischen Gemeinschaft speisten das Bankkonto des Stillhaltekommissars. Dieses Amt diente neben der Gleichschaltung der Vereinslandschaft auch der gezielten Besitzergreifung von Vermögenswerten. Im Archiv der israelitischen Kultusgemeinde Wien liegen Akten vor, in denen die Aneignung dokumentiert ist. Unter dem Punkt „getroffene Verfügungen“ steht schlicht „Aufgelöst, Vermögen eingezogen“, keine weitere Erläuterung war von Nöten, um die Bemühungen der aufstrebenden jüdischen Gemeinschaft in Neubau zu unterbinden.
Opfer der Arisierung
Die Nationalsozialisten verkauften das Gebäude, die ursprünglichen Besitzer erhielten nach dem Krieg keine Entschädigung. Mittlerweile erinnert eine Gedenktafel vor dem ehemaligen Vereinsbethaus Neubau an die Opfer der Arisierung. Diese wurde nach einer Reihe von Komplikationen erst im Jahr 2004 aufgestellt. Bereits 1988 wollte die damalige Bezirksvertretung Neubau besagte Tafel an der Fassade des Hauses anbringen lassen, dieses Vorhaben scheiterte allerdings. Man errichtete die Stahlplatte kurzerhand auf öffentlichem Grund vor dem ehemaligen Vereinsbethaus Neubau.
Licht erinnert an den Schatten
Auf der Tafel steht ein Gedicht von Erich Fried, in kunstvoll gefrästen Lettern lässt sich auf Hebräisch und Deutsch eine Kritik an den Verdrängungsmechanismen der Nachkriegszeit lesen:
„Was keiner geglaubt haben wird, was keiner gewusst haben konnte, was keiner geahnt haben durfte, das wird dann wieder das gewesen sein was keiner gewollt haben wollte.“
Die Besonderheit des Denkmals offenbart sich lediglich an wolkenlosen Tagen. Wenn die Sonne im richtigen Winkel steht, fallen ihre Strahlen durch den Schriftzug der Gedenktafel und man kann das Gedicht von der Hausfassade ablesen. So erinnert das Licht an den Schatten der damaligen Zeit, denn nur wer die Vergangenheit liest, kann eine bessere Zukunft schreiben.
Für Interessierte: Im Museum Judenplatz werden zur Zeit virtuelle Rekonstruktionen zerstörter Synagogen ausgestellt. Neben der Präsentation der Animationen nach der neuesten Technologie werden Modelle der Synagogen und Originalbaupläne, die sich im Archiv des Jüdischen Museums Wien befinden, erstmals einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt.
Fotos: Daniel Klingler | Christian Zela