Steine der Erinnerung | Betrachtungsweisen

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Bei der Enthüllung der „Steine der Erinnerung“ am 1. Oktober 2017 werden an fünf verschiedenen Stationen in der Westbahnstraße künstlerische Beiträge stattfinden. In der Westbahnstraße 27-29 wird eine Situation von Günter Puller und Lazar Lyutakov inszeniert. im7ten hat die beiden Künstler im Vorfeld zu ihren Beweggründen, Teil der Veranstaltung zu werden, befragt.

Lazar Lyutakov & Günter Puller vor dem Mahnmal gegen Krieg und Faschismus von Alfred Hrdlicka | Foto: Veronika Fischer
Lazar Lyutakov & Günter Puller vor dem Mahnmal gegen Krieg und Faschismus von Alfred Hrdlicka | Foto: Veronika Fischer

Ich treffe Günter Puller und Lazar Lyutakov zum Interview in einem traditionellen Kaffeehaus in der Innenstadt. Mit dem klassischen Herrn Ober, den kleinen, runden Kaffeehaustischen mit schwerer Marmorplatte, den Höflichkeiten, dem Publikum, dem Kontrast von nostalgischer Schwere und gegenwärtiger Leichtigkeit.
In ein echtes Wiener Kaffeehaus zu gehen, ist wie eine Zeitreise – hundert/hundertfünfzig Jahre zurück. In eine Welt, auf die das noch zukommen wird, was wir heute rückblickend als dunkle Vergangenheit betrachten.
Es ist ein Kommen und Gehen. Mit Aktentaschen und eleganten Handtaschen, mit adretten Einkaufstaschen und großen Blumensträußen. In der Mitte des Tisches liegt mein Handy, das neben den wirr durch den Raum fließenden Stimmen, den rundherum stattfindenden Gesprächen und dem wiederkehrenden Geräusch des Anschlages von Löffeln an Kaffeetassen auch unsere drei Stimmen aufnimmt. Es ist eine Situation. Eine Umgebung. Etwas, das sich aus jeder Perspektive anders darstellt: Auf den ersten Blick vielleicht sehr klar – eine Interviewsituation –, beim näheren Betrachten surreal und abstrakt – weil das Gesprochene schwer zu erfassen ist und einen Kontrast zum Hier und Jetzt bildet –, und am Ende doch wieder sehr einfach einzuordnen, wenn man es wagt, sich von seiner eigenen Grundhaltung zu lösen und die Situation mit anderen Augen zu betrachten.
Insofern ist unser Gespräch ein Vorgeschmack auf das, was die beiden Künstler am 1. Oktober in der Westbahnstraße 27-29 tun werden – auch hier wird es eine „Performance“ geben, die als Situation oder Umgebung verstanden werden möchte.

Wie werdet Ihr Euren Beitrag bei der Veranstaltung „Steine der Erinnerung“ gestalten?
Günter Puller: Unsere Ausgangsfrage war, wie man mit der Situation des Dokuments und der Recherche umgeht: Was bedeutet das Dokumentarische heute und wie geht man damit um, dass Menschen deportiert wurden, deren Geschichte nun im Internet in Listen abrufbar ist? Wie genau soll, muss und darf Kunst in der Wiedergabe von Details sein?

Was habt Ihr bei Euren Recherchen gefunden?
Günter Puller: Die Recherche gestaltete sich schon in ihren Anfängen sehr schwierig. Es gibt mehrere Archive, die für die Recherche von NS-Opfern in Frage kommen, dennoch war es kompliziert, über die Basisdaten wie Name, Geburts- und Deportationsdatum hinaus weitere Informationen zu bekommen. Das war für mich ein Klickpunkt, an dem ich dachte, dass ich dieses Thema bearbeiten kann, weil es für mich nicht mehr ausschließlich um die Persönlichkeit einzelner Menschen geht.

Lazar Lyutakov: Es liegt in der Natur der Kunst, Dinge allgemeiner zu betrachten und mehr zum Ausdruck zu bringen, als wir über ein persönliches Schicksal sagen könnten. Gute Kunst hat die Eigenschaft, etwas Allgemeines, Mehrbedeutendes aus einer Sache zu holen, auch wenn es sich auf etwas Persönliches bezieht. Deswegen standen wir vor der Frage: Wollen wir wirklich mehr über diese Personen wissen und was würde es uns bringen? Was könnten wir mehr wissen? Die Tatsache, dass wir sieben Sätze mehr über diese Person lesen, würde immer noch nicht bedeuten, dass wir sie kennen oder mehr wissen. Vielleicht wissen wir sogar weniger. Alles ist sehr relativ zu betrachten. Was wir wollen, ist, etwas Schönes und Bedeutsames zu machen.
Die Bürokratie hat die Deportation leichter gemacht, Menschen als Daten und Zahlen zu betrachten und zu deportieren.

… und jetzt sind es bürokratische Hürden, die den Zugang zu Personendaten und Informationen erschweren.
Günter Puller: Richtig. Mittlerweile sehe ich es so, dass unsere Herangehensweise eine ist, die sehr viel in der Vorstellung der BetrachterInnen zulässt.

Wie wurde das Projekt an Euch herangetragen?
Günter Puller: Thomas Kreuz trat mit der Frage an mich heran und ich habe mir ein Haus ausgesucht, das auf seiner Liste stand: Westbahnstraße 27-29. Ich fuhr hin und bemerkte, dass es sich um das Haus handelt, in dem Lazar zufällig eines der dort angesiedelten Ateliers des Bundes hat. Ich wollte Lazar schon einladen, bevor ich wusste, dass es dieses Haus ist, aber so ergab das Eine das Andere.

Warum ist Dir Lazar eingefallen, um Dich bei dem Projekt zu unterstützen?
Günter Puller: Bei Lazar fließt das Alltägliche in die Art und Weise ein, wie er sich zusätzlich ausdrückt.

Lazar Lyutakov: Mein Interesse an alltäglichen Themen oder Alltagsgegenständen, denen wir begegnen, gilt der Normalität. Ich finde das in Bezug auf eine erschreckende, überwältigende geschichtliche Tatsache interessant. Wenn man über Normalität in dem damaligen Kontext nachdenkt, stellt man fest, dass es zur Normalität gehörte, Menschen alles zu nehmen und sie irgendwo hinzubringen, wo sie verschwanden.

Günter Puller: Interessant ist auch, wie unterschiedlich wir damit umgehen, denn Lazar stammt aus Bulgarien [das eine gänzlich andere Rolle im 2. Weltkrieg spielte, Anm. d. Red.]. Es ist sehr ungewöhnlich für mich, das zu hören. Lazar hat historisch gesehen eine ganz andere Sicht auf diese Dinge.

Lazar Lyutakov: Ganz anders! Bulgarien ist im 2. Weltkrieg an der Seite Deutschlands eingetreten. Allerdings hat man die Forderung der deutschen Regierung, die jüdische Bevölkerung auszuliefern, lange durch politisches Tauziehen weitgehend verhindern können, sodass fast alle der im bulgarischen Kernland lebenden Juden überlebten. Deshalb ist das Thema keine offene Wunde in Bulgarien.
Dieser Unterschied zwischen unseren Ländern war einer der ersten, die mir als 20-Jähriger, damals neu in Wien, aufgefallen sind. Ich wusste, dass es hier eine Geschichte gibt, die von allen nach wie vor verarbeitet wird. Ich habe nicht weiter darüber nachgedacht, aber es war mir immer klar, dass es eine Sensibilität bezüglich dieses Themas hier gibt. Deshalb freue ich mich, dass ich in dieses Projekt eingebunden bin. Durch viele Ecken: durch meine Arbeit, meine Arbeitsweise, aber auch dadurch, dass ich in demselben Gebäude bin und mich nicht bewusst eingemietet, sondern etwas vom Bund bekommen habe – das heißt: eigentlich bekomme ich Unterstützung vom Land. Genau dort, wo andere keine bekommen haben. Im Gegenteil! Das hat Potenzial einen Blickwinkel zu ermöglichen, der der Realität sehr nahe liegt und durch die Umpositionierung der Geschichte auch etwas Poetisches hat.

Mehr Informationen zu den beiden Künstlern gibt es auf gunterpuller.com und lazarlyutakov.com.

Alles zu „Steine der Erinnerung“ auf www.steinedererinnerung.at.

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