Im Hof der Lindengasse Nummer 46 steht ein Götterbaum. Es ist ein besonders schönes Exemplar und steht daher nicht nur unter Schutz sondern ist auch ein eingetragenes Naturdenkmal. Gerade in diesen ersten Tagen des neuen Jahres ist dieser Götterbaum wahrlich ein Denkmal. Denn wo der Mensch noch mit seinen Vorsätzen und Hoffnungen beschäftigt ist, erinnert uns der Baum daran, dass es auch ganz anders kommen kann. Dieser Götterbaum ist der letzte Überlebende von einst großen Plänen. Denn hier war das Zentrum von Europas größter Seidenfabrikation: vor 200 Jahren ratterten hier in 300 Fabriken noch 8.000 Webstühle, mehr als 30.000 Menschen produzierten Seidenwaren und Zugehöriges. Der Götterbaum, dessen Blätter die Hauptnahrung des Ailanthus-Spinners (auch Götterbaumspinner genannt) ist, wurde dereinst aus China eingeschleppt, um diesen Schmetterling hier anzusiedeln und damit die Grundlage für die Seidenproduktion direkt vor der Haustüre zu haben. Die Industrie ist längst verschwunden, geblieben ist ein Baum. Biologisch gilt der Götterbaum heute als invasive Art, weil er hier nicht heimisch ist, sondern eingeschleppt.
Wie bereichernd solch invasive Arten sein können, zeigt das Beispiel des legendären Übersetzers Harry Rowohlt. Aus Hamburg stammend, hat er sich immer wieder gerne selbst hier eingeschleppt und dabei der autochthonen Bevölkerung ihre Weltsicht in verständliche Worte übersetzt: „Anfang Januar. Zeit Bilanz zu ziehen. Von dem Jahr erwarte ich mir nicht mehr viel.“
Philipp Mosetter (*1956) lebt und arbeitet als freier Autor und Schauspieler in Wien und Frankfurt/Main. Er verfasst monatlich eine Kolumne über den 7ten im Falter.
up* – unpublished
Philipp Mosetter
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Fotocredit: Tsai-Ju Wu