Eine der segensreichsten Einrichtungen der Natur ist die Frühjahrsmüdigkeit. Müdigkeit führt im Idealfall zum Schlaf oder wenigstens zu einem kurzen Einnicken. Und der Schlaf als solcher, und sei es auch nur ein kleines Nickerchen, ist in unseren Tagen nicht hoch genug einzuschätzen. Denn was treibt der Mensch, wenn er nicht schläft? Er beschäftigt sich mit sich. Er, und sie gleichermaßen, sind unentwegt, ja tatsächlich unermüdlich damit beschäftigt, sich zu optimieren, sich zu positionieren, sich mitzuteilen, sich mit sich auszutauschen. Er, und sie gleichermaßen, werden nicht müde, beim Blick auf ihre allgegenwärtigen Glasscheiben (egal ob wir sie Spiegel, Smart-Phone, Tablet oder Schaufenster nennen) nach dem Sich im Ich zu forschen. Im Frühjahr, wenn die Müdigkeit durchs Land zieht, keimt leise Hoffnung, der Mensch möge einschlafen über seinem eigenen Antlitz. Vielleicht wäre ihm dann, wenigstens im Schlaf, ein Blick über sich hinaus vergönnt.
Ja, wir schätzen den Schlaf gering. Aber Franz Weidinger wusste den Schlaf zu schätzen. Dieser Tage jährt es sich zum hundertsten Male, dass er sich im Haus Westbahnstraße 6a, zu seinem ewigen Schlafe niederlegte und uns Schlaflose zurückließ. 25 Jahre lenkte er die Geschicke des Bezirks als Bezirksvorsteher. Ihm verdanken wir, als erstem Bezirk Wiens, die nächtliche Straßenreinigung. Er war es, der den Schlaf der anderen nutzte um an eben diese Anderen zu denken – und reinigte ihnen, des Nachts, die Straßen. Möge uns ein wenig Schlaf von uns reinigen. Vielleicht führt das ja auch zu mehr Ausgeschlafenen.
Philipp Mosetter (*1956) lebt und arbeitet als freier Autor und Schauspieler in Wien und Frankfurt/Main. Er verfasst monatlich eine Kolumne über den 7ten im Falter.
up* – unpublished
Philipp Mosetter
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Fotocredit: Tsai-Ju Wu
Weiterlesen: März 2016