Die Halbgasse – eine historische Betrachtung

Buchausschnitt Halbgasse

Illustration_KopernikusSo manch einer vermag mit Zahlen nichts anzufangen, und doch, grundlegende Rechenfähigkeiten erleichtern das alltägliche Leben erheblich. Anhand der favorisierten Obstsorte des jeweiligen Mathematiklehrers wird der Jugend unter anderem erklärt, dass man Dinge teilen kann. Wenn man Besitzer eines halben Apfels ist, benötigt man eine weitere Apfelhälfte um einen ganzen Apfel zu erhalten. Manchmal gibt es allerdings auch Sonderfälle, und ein Halb ist bereits ein Ganzes. Eine dieser Ausnahmen ist die Halbgasse im siebten Bezirk. Wenn man durch die Gasse schlendert, hat man zumindest nicht das Gefühl, dass etwas fehlt. Die Häuser haben Dächer, die parkenden Autos verfügen über Reifen und an beiden Seiten der Straße befindet sich ein Gehweg. Also alles in allem ziemlich vollständig diese Halbgasse, auch wenn sie nicht sonderlich lang ist.

Vom Wirtschaften im Schottenfeld

Und doch war sie das einst, zumindest weckte ihr Name diesen Anschein. Bis ins Jahr 1770 hieß die Straße im oberen Bereich des Schottenfeldes Langegasse, weitere 30 Jahre wurde sie Herrengasse genannt und erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts erhielt die Halbgasse ihren heutigen Namen. Es war ebenjene Zeit in der sich die Fühler der Industrialisierung allmählich nach dem Herzen des Kaiserreichs streckten und so auch für reges Wirtschaften im Schottenfeld sorgten. Hauptsächlich wurden Seide und Samt hergestellt, alleine im Gebiet des heutigen siebten Bezirks sollen über 30.000 Menschen in ungefähr 300 Fabriken tätig gewesen sein. Dies trug erheblich zum Reichtum des Schottenfelds, welches damals auch Brillantengrund genannt wurde, bei.

Kinderbetreuung in der Halbgasse

Die steigende Anzahl an Arbeitsplätzen war zwar eine durchaus positive Entwicklung für die BürgerInnen Wiens, stellte sie allerdings vor ein Problem: Wohin mit ihren Kindern? Zu diesem Zweck wurde am 14. Mai 1853 die erste Kleinkinderbewahranstalt, ein Vormodell des heutigen Kindergartens, gegründet. Dieses Ereignis war derart bedeutend, dass sogar Kaiser Franz Joseph I. höchstpersönlich den Eröffnungsfeierlichkeiten beiwohnte. Durchaus keine Selbstverständlichkeit, so entging der Kaiser doch erst zwei Monate zuvor nur knapp einem Attentat. Der Errettung Franz Josephs verdanken wir die Votivkirche in Wien, welche an den glücklichen Ausgang dieses Vorfalls erinnern soll. Aber was hat das mit der Halbgasse zu tun? Nun, besagte Kleinkinderbewahranstalt zog 19 Jahre später, am 1. August 1872, um. Sie war fortan unter dem Namen „Zur goldenen Kugel“ in der Halbgasse Nr. 8 zu finden.

Zu den zwei Rösseln

Der englische Kunstreiter Johann Hyam war eine wahrlich interessante Persönlichkeit. Er zog im späten 18. Jahrhundert mit einer Gruppe von Akrobaten und Seiltänzern durch ganz Europa und setzte sich schließlich in Wien zur Ruhe. Nun, der Ruhestand bezog sich lediglich auf seinen Wanderzirkus. Immerhin eröffnete er den „Royal Circuit“, den ersten stationären Zirkus Wiens, welcher sich großer Beliebtheit erfreute. Im Jahr 1784 konstruierte der Freimaurer einen Heißluftballon, dessen Korb, durchaus passend, die Form eines Pferdes hatte. Hyam wollte seinem Sohn einen Blick über die Dächer Wiens ermöglichen, die Polizei hinderte ihn allerdings an seinem Vorhaben. 1797, im Alter von 64 Jahren, hängte er das Zirkusgeschäft an den Nagel und widmete sich dem Pferdehandel. Zu diesem Zweck eröffnete er das Geschäft „Zu den zwei Rösseln“ in der Halbgasse Nr. 14.

Fazit: Was ist nun halb an der Halbgasse? Im Prinzip nichts, es geht hier um das Verhältnis zu den beiden benachbarten Straßen. Der Gasse wurde dieser Name lediglich verliehen, weil sie halb so lang ist wie ihre Parallelstraßen: die Kaiserstraße und die Schottenfeldgasse. Bei genauerer Betrachtung der drei fällt allerdings auf, dass der Name Viertelgasse wohl passender gewesen wäre.

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