Jungen Menschen mit Startschwierigkeiten einen Ausbildungsplatz ermöglichen – das war der Gründungsgrund von Handwerk Wien, einem wirtschaftlich geführten Schneidereiunternehmen mit sozialem Engagement. Der Benefit kommt aber nicht nur den Lehrlingen zugute, sondern bringt insbesondere der Textilbranche und damit den Kund*innen etwas: Kleidung mit mehr Wert.
First impressions
In einem lichtdurchfluteten Atelier im 3. Stock der Neubaugasse 11 empfängt mich Beatrix Standl, die gewerbliche Geschäftsführerin von Handwerk Wien. Ein großes Anprobezimmer, ein Besprechungsraum, zwei Werkstättenräume und die Teamräume sind geschmackvoll und schlicht eingerichtet, kopfüber hängen Stoffballen, die als farblich gestaltendes Element harmonisch ins Raumdesign eingearbeitet sind. Vor dem großen Fenster im Anproberaum laden zwei Sessel im Vintage-Look zum Platznehmen neben einer Midcentury-Kommode ein. Dazwischen steht ein kleiner Tisch – eine Konstruktion aus Kupferrohren und Glasoberfläche – der den hier schwingenden Grundton verstärkt: Die Kombination aus Tradition und Moderne, die gemeinsam ein wohliges, vertrauenerweckendes Gefühl vermitteln.
Jungen Menschen Chancen bieten
Handwerk Wien wurde 2017 gegründet, um gezielt jenen jungen Menschen die Chance auf einen Ausbildungsplatz zu bieten, die aus unterschiedlichen Gründen erhärtete Bedingungen am Arbeitsmarkt bei der Suche nach einem geeigneten Ausbildungsplatz vorfinden – die bisherige Lebensgeschichte jeder und jedes Einzelnen ist berührend und spannend gleichermaßen; zu privat, um sie hier, auch ohne Namen zu nennen, niederzuschreiben.
Ich treffe hier vier auf ihrem Ausbildungs- bzw. Berufsweg – einer hat die Lehre bereits abgeschlossen und arbeitet auf die Meisterprüfung hin – motivierte Menschen, die Fünfte wird das kleine Team im September komplettieren.
Lehrlinge, die hier einen der fünf begehrten Plätze bekommen, absolvieren ihre Ausbildung in einer verlängerten Lehrzeit. Aufgrund der Teilfinanzierung aus privaten Mitteln kann Handwerk Wien die Lehrlinge mit zusätzlichen Angeboten unterstützen: Gesundheitsfördernde Aktivitäten, sprachliche Förderung in Deutsch und Englisch sowie individuelle Unterstützung wie etwa bei der Suche nach einem Arbeitsplatz oder weiterführenden Ausbildungen sind gelebte Philosophie.
Die Ausbildung der Lehrlinge teilen sich Beatrix Standl und Wieslaw Morzyckik, die langjährige Erfahrung in der Modeschneiderei mitbringen. Um die Ausbildung möglichst vielseitig zu gestalten, steht das Unternehmen auf drei Standbeinen: Änderungsschneiderei, Anfertigung von Kleinserien und Maßschneiderei. Dabei ist jeder Bereich nicht nur wirtschaftlich, sondern auch vom Lernaspekt von Bedeutung.
Anbieter für Kleinserienfertigung von Kleidungsstücken in Wien
In der Kleinserienfertigung wird einerseits ein erster Eindruck in die Abläufe einer Serienfertigung gegeben, andererseits eine gefragte Nische bedient: Regionale Produktion von Kleidung in Wien für Wiener Unternehmen.
In kleinen Stückzahlen werden bequeme Tanzoutfits für Lillis Ballroom, Upcycling von Vintage-Jeansjacken für Tassel Tales oder Kleidungsstücke für die Lingeria Macchiato (ehem. Dessous- und Unterwäschegeschäft in der Hermanngasse) gefertigt – Beispiele für regionale Fertigung par excellence. Auch eine eigene, kleine Kollektion wird von Handwerk Wien hergestellt, um den Lehrlingen anhand von eigens zu Lehrzwecken ausgewählten und entwickelten Schnitten, das Handwerk vom ersten Strich bis zum letzten Stich beizubringen.
Upcycling-Auftrag von SALESIANER
Kürzlich realisierte das Sozialunternehmen Handwerk Wien einen besonderen Auftrag für die SALESIANER-Gruppe. In Handarbeit wurden von den Lehrlingen hunderte von Plüschteddybären – liebevoll SALIs genannt – aus einem angenehmen, fast flauschigen Material gefertigt. Die zu 100 % recycelten Textilien stammen von ausgeschiedenen OP-Abdeckungen und werden mit verschiedensten Innenfüllungen von Kopfpolstern befüllt. Diese werden von SALESIANER u. A. an junge Patient*innen in Spitälern verschenkt, um ihnen ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern und Trost zu spenden.
So sinnvoll kann Nachhaltigkeit sein!
Aus den Stoffresten der Kooperation von Handwerk Wien mit der SALESIANER-Gruppe entstanden weitere Upcycling-Produkte. Die Auszubildenden von Handwerk Wien nähten daraus Einkaufstaschen und Fahrradsattel-Regenhauben. Diese sind am Flaniermarkt am 3. und 4. Mai 2024 beim Stand von Handwerk Wien käuflich zu erwerben.
Maßschneiderei in 1070 Wien
Die Maßschneiderei bedient wiederum die Nachfrage nach individuellen Kleidungsstücken in Meisterqualität: Vom Maßhemd über die Anzughose bis hin zum Ball- oder Brautkleid kann hier jedes Kleidungsstück nach Kund*innenwunsch angefertigt werden – je vielseitiger desto besser, denn genau hier tut sich unheimlich großes Lernpotenzial auf.
„Die Lehrlinge können einen Großteil dieser Arbeiten übernehmen – auch durch die unterschiedlichen Begabungen. Sie sind so geschickt, dass wir vieles aufteilen können“, ist Beatrix Standl stolz auf ihre Lehrlinge, „es sind unglaublich tolle, junge Menschen, mit denen es wirklich Spaß macht zusammenzuarbeiten.“
Wenn die Mode zu schnell wird …
Sie übernahm den Job als gewerbliche Geschäftsführerin im Jänner 2019. Nach 21 Jahren im Boutiquebereich kam das Angebot zum Jobwechsel zufällig: „Ich war sofort Feuer und Flamme. (…) 21 Jahre lang in der Boutique waren wunderbar, da gibt es gar nichts! Doch irgendwann kommt man an den Punkt, an dem man sein Tun hinterfragt.“
Den Trend im Textilhandel, von einem Sale zum nächsten und die damit einhergehende Abwertung der Wegwerfgesellschaft von Kleidung, betrachtet sie kritisch, sodass die sich der neuen Herausforderung gerne stellte.
„Das ist ein wertvolles Arbeiten für die Textilbranche, in der man den Stücken wieder mehr Wert gibt – sowohl in der Maßanfertigung als auch in der Änderung, denn hier wird repariert, damit die Teile länger getragen werden können. Man spürt nicht nur die Wertschätzung für die regionale Produktion, sondern auch für die fachliche Arbeit: Schöne Qualitätsware in Meisterqualität – das versuchen wir zu vermitteln.“
Die Straße der Spezialist*innen
Dass sich Handwerk Wien gerade am Anfang der Neubaugasse, der Straße der Spezialist*innen, angesiedelt hat, ist für mich mehr lustiger Zufall als Planung: Obwohl hier die Qualitätsarbeit einer Meisterschneiderei geboten wird, ist die Lage in der Nähe einer Shoppingmeile perfekt, weil die Vielseitigkeit des Angebots von Handwerk Wien unterschiedliche Zielgruppen bedient und standortmäßig wie ideologisch eine Nahtstelle darstellt: Mit marktüblichen Preisen in der Änderungsschneiderei können KundInnen gewonnen werden, die vielleicht zunächst über einen Zippverschlusstausch oder das Kürzen einer Hose auf das Angebot von Handwerk Wien aufmerksam werden.
Die Konkurrenz ist – insbesondere aufgrund der Marktöffnung der Änderungsschneiderei in ein freies Gewerbe – groß, doch man begegnet der Herausforderung mit den wichtigsten Argumenten: Qualität und Flexibilität.
„Die Änderungsschneiderei ist ein guter Bereich, um den Lehrlingen zu zeigen, was es alles gibt, was man alles machen und ändern kann“, erklärt Beatrix Standl. Wie die klassische Herrenhose gefertigt ist, wie die Futterfalte eines Sakkos gemacht sein kann und wie man Änderungen am jeweiligen Stück vornimmt. Aktuell wird an einem umfangreichen Änderungsauftrag gearbeitet, für den das Team den Auftraggeber zum Abstecken der Sakkos und Hosen zu Hause besuchte, um gemeinsam die Stücke auszuwählen.
Individuelle Beratung spielt auch bei Maßaufträgen eine tragende Rolle: Die Vorstellungen und Wünsche werden besprochen, der Schnitt gewählt und für den Fall, dass der passende Stoff nicht im Lager gefunden wird, begleitet Beatrix Standl zum renommierten Stoffhändler Komolka, der in Fußnähe auf der Mariahilfer Straße 58 zu finden ist, und berät bei der Stoffwahl. Der Preis für das maßgeschneiderte Kleidungsstück wird nach Aufwand kalkuliert „Die Bandbreite ist sehr groß. Allein der Stoff macht viel aus – man kann günstigen Stoff nehmen, es gibt aber auch Stoffe, die 200 Euro pro Laufmeter kosten. Somit gibt es Maßhemden um 100 Euro, aber auch um 250 Euro, wenn es sehr speziell sein soll.“
Wohin die Reise geht …
… wird sich weisen. Eine gleichbleibend gute Auslastung mit Auftragsarbeiten steht auf der Prioritätenliste ganz oben. In Zukunft ein Gassenlokal zu haben, in dem sich auch Laufkundschaft zeigen lässt, welche Möglichkeiten sich bei Handwerk Wien bieten, ist nicht ausgeschlossen. Noch aber dürfen Kund*innen den Ausblick aus dem 3. Stock genießen, der sich – wenn man über das Dach des gegenüberliegenden Hauses blickt – ein bisschen wie das Schauen über den textilindustriellen Tellerrand anfühlt.
Handwerk Wien
Neubaugasse 11/15 (3. Stock, Lift vorhanden), 1070 Wien
www.handwerkwien.com
Titelbild: Gustavo Fring via Canva