Jahrelang stand es von der Witterung der letzten Jahrzehnte gezeichnet als unscheinbare Kulisse hinter dem Augustinbrunnen am Augustinplatz am Neubau – das Haus in der Neustiftgasse 32–34. Anfang der 2020er-Jahre wurde die Fassade nach Originalvorbild saniert und damit ein Funken des Glamours zurückgeholt, der dieses Haus vor über hundert Jahren durchflutete.
Die Gründung der Wiener Werkstätte
Die Kalender zeigten das Jahr 1903 an, als der Architekt Josef Hoffmann, der Künstler Koloman Moser und der Textilfabrikanten Fritz Waerndorfer sich in Wien zusammentaten, um die Wiener Werkstätte zu gründen. Das Ziel dieser Unternehmung war es, Kunst und Handwerk miteinander zu verbinden, um kunstvolle Alltagsgegenstände von hoher Qualität zu schaffen. Es war eine Gegenbewegung zur industriellen Massenproduktion, und sie nahm ihren Anfang in der Neustiftgasse 32–34 im 7. Bezirk.
Nun ja, genau genommen arbeiteten Moser, Hoffmann und Waerndorfer zunächst in einer kleinen Wohnung in der Heumühlgasse 6 im 5. Bezirk, doch bereits in besagtem Gründungsjahr bezogen die Gründerväter der Wiener Werkstätte das dreistöckige Gebäude in der Neustiftgasse Ecke Kellermanngasse, dessen Bau soeben fertiggestellt worden war.
Exkurs: Reiterskulptur
Wir haben dem Haus vor einigen Jahren im Zuge unseres Blogposts Den 7. Bezirk entdecken | Die zweite Türkenbelagerung Teil 2 bereits einen Besuch abgestattet, denn an der Hausmauer befindet sich eine Nische, in der eine kleine, vergoldete Steinskulptur angebracht ist. „Ein türkischer Reiter auf einem sich bäumenden Pferd – geschmückt mit Turban und in Pluderhosen, seinen Krummsäbel über dem Haupt schwingend. Optisch erinnert die Statue an die ebenfalls türkische Reiterfigur am Heidenschuss in der Inneren Stadt“, könnt ihr in unserem Blogpost nachlesen. Lange hielt sich die Annahme, dass hier das Zelt des Großwesiers Kara Mustapha während der 2. Türkenbelagerung Wiens gestanden hatte. Ein Mythos, der heute längst widerlegt ist.
Die Wiener Werkstätte: Ein Meilenstein der Kunst und des Designs
Gehen wir zurück zur Wiener Werkstätte: Josef Hoffmann, Koloman Moser und Fritz Waerndorfer hatten ihre sprichwörtlichen Zelte (pun intended) in der Neustiftgasse 32–34 aufgeschlagen und bereits im Jahr darauf präsentierte man die Arbeit im Hohenzollern-Kunstgewerbehaus in Berlin. Die Neuinterpretation des Kunstgewerbes durch den Entwurf und die Fertigung ästhetischer Alltagsgegenstände fanden in Europa Anklang. Verkaufsstellen der Wiener Werkstätten in Berlin, Karlsbad, Köln, Marienbad und Zürich wurden über die Jahre eröffnet. Sogar bis nach New York war die Wiener Marke mit ihrem unabhängigen Stil bekannt und gefragt.
Und Wien, genauer gesagt das Haus in der Neustiftgasse 32–34 war das Zentrum, von dem das kreative Schaffen ausging. In den Werkstätten gab es unterschiedliche Abteilungen wie Möbelbau, Textildesign und Metallarbeit, aber auch Glasmalerei und Buchbinderei. Sie alle orientierten sich an der Gründungsvision, ästhetische Gegenstände in höchster handwerklicher Qualität und stilistischer Einheitlichkeit zu fertigen. Letztere entstand durch geometrische Formen, oft eine markante Reduziertheit, aber auch opulente, farbenfrohe Ornamente.
Treffpunkt für Künstler*innen
Die Wiener Werkstätte war aber noch viel mehr als ein produzierendes Unternehmen. Hier, in der Neustiftgasse 32–34, 1070 Wien, trafen sich Künstler*innen und Designer*innen zum Austausch innovativer Ideen.
Viele von ihnen studierten an der Kunstgewerbeschule – so auch Vally Wieselthier, die von 1917 bis 1922 als freie Mitarbeiterin in der Wiener Werkstätte Gebrauchskeramik, Schmuck, Stoffmuster und insbesondere auch kleine Figuren entwarf. Fünf Jahre lang betrieb sie eine eigene Keramikwerkstätte, bevor sie 1927 als künstlerische Leiterin der Keramikabteilung an die Wiener Werkstätte zurückkehrte. Der Vally-Wieselthier-Park in der Stiftgasse, 1070 Wien, erinnert seit 2021 an die beeindruckende Künstlerin.
Vertreter*innen der Wiener Avantgarde wie Gustav Klimt und Egon Schiele standen der Wiener Werkstätte nahe und beeinflussten die Arbeit künstlerisch. Ersterer war zwar kein formelles Mitglied der Wiener Werkstätte brachte sich jedoch künstlerisch ein und arbeitete an gemeinsamen Projekten wie dem Bau und der Ausstattung des Palais Stoclet in Brüssel mit.
Exkurs: Gustav Klimt
Für Gustav Klimt war es ein Katzensprung von seiner Wohnung in der Westbahnstraße 36, in der er von 1898 bis zu seinem Tod 1918 lebte, ins Atelier der Wiener Werkstätten in der Neustiftgasse 32–34.
Wir nutzen den Exkurs, um schon eine Info einzuweben, auf die wir in wenigen Zeilen zurückgreifen werden: Gustav Klimt war 1913 eines der 178 Gründungsmitglieder des Österreichischen Werkbundes, dem österreichischen Pendant zum Deutschen Werkbund, der 1907 ins Leben gerufen wurde. Alle drei Organisationen hatten einen ähnlichen künstlerischen Anspruch: nützliche Dinge in handwerklicher Arbeit zu fertigen.
Mehr zu den Gedenktafeln im 7. Bezirk erzählen wir im Blogpost Zwanzig Gedenktafeln am Neubau.
Aufstieg und Ende einer Institution
Die Wiener Werkstätte gilt als eine der einflussreichsten Bewegungen in der Geschichte von Kunst, Handwerk und Design, die weit über die Grenzen Österreichs hinausstrahlte. Ihre Hochblüte fand mit dem 1. Weltkrieg ein jähes Ende. Sie schaffte es noch in die Goldenen Zwanziger, stand jedoch immer wieder am Rand des Konkurses, bis sie 1932 endgültig schließen musste.
Hier endet die Geschichte der Wiener Werkstätte in der Neustiftgasse, nicht aber unsere Erzählung.
Exkurs: Das Haus in der Neustiftgasse 32–34
Erbaut wurde das Haus in den Jahren 1902 bis 1903 und der Stuck der Originalfassade im Zuge der Sanierung 1961 abgetragen, wie die Recherche von Georg Scherer für WienSchauen ergab.
2021 wurde die Hausfassade saniert und durch die Wiederherstellung des originalen Erscheinungsbildes aufgewertet.
Ausbau der U2 und Baustelle am Augustinplatz
Aktuell wird am Augustinplatz gebaut. Der Augustinbrunnen wurde an einen anderen Standort (am Naschmarkt) übersiedelt, wo er bis zum Abschluss der Bauarbeiten – voraussichtlich bis 2028 – bleiben wird. Am Augustinplatz entsteht unterirdisch eine Weichenanlage, auf der Züge das Gleiswechseln können. Darüber hinaus wird hier eine Notausstiegsmöglichkeit eingeplant, sodass die Fahrgäste im Fall einer Störung am Augustinplatz an die Oberfläche gelangen können.
Entwicklung in der 2. Republik
1948 gelang dank der Initiative von Josef Hoffmann, Oswald Haerdtl, John Backhausen jun., Hans Harald Rath, Carl Auböck und Karl Hagenauer eine Renaissance: Unter dem Namen Österreichische Werkstätten knüpfe man an die Idee der Wiener Werkstätte, des Werkbundes und des Wiener Kunsthandwerkvereins – der einzigen noch zugelassenen Künstler*innenvereinigung unter dem NS-Regime – an.
Einmal mehr wurden in fachkundiger Handwerkskunst hochwertige Materialien mit funktionellen Formen verbunden, um den Alltag der Menschen mit Ästhetik und Qualität auszukleiden.
Die Österreichischen Werkstätten bestehen bis heute, sind Teil der List Group und haben ihren Sitz in der Wiener Kärtner Straße. Sie orientieren sich am Geist der Wiener Moderne.
Das Erbe der Wiener Werkstätte
Das Haus in der Neustiftgasse 32–34 bleibt ein Symbol für diese einzigartige Ära der Wiener Kunstgeschichte – aufgewertet und durch die jüngste Sanierung erstrahlt das Gebäude wieder in neuem Glanz. Wer Wien – und insbesondere den 7. Bezirk – besucht, kann sich auf die Spuren der Wiener Werkstätte begeben und die Stadt als einen Ort erleben, an dem Kunst und Leben noch immer Hand in Hand gehen. Die pulsierende Kreativität und Liebe zu Handwerk und Design ist Wien-Neubau tief in die DNA geschrieben. Sie zeigte sich schon vor Gründung der Wiener Werkstätten in der florierenden Seidenproduktion samt zugehöriger Handwerke. Sie wurde von der Dichte hier lebender und/oder arbeitender Kunstschaffender unterstrichen. Sie reichte von den Wiener Werkstätten über Europa hinaus, und sie ist auch heute in den vielen kleinen Design- und Handwerksbetrieben sichtbar.
Weiterführende Lesetipps
Geschichte Wiki Wien: Wiener Werkstätte, Stand: 12.12.2024
Geschichte Wiki Wien: Vally Wieselthier, Stand: 12.12.2024
Österreichische Werkstätte: Geschichtlicher Rückblick, Stand: 12.12.2024
Wiener Linien: Aktuelle und geplante Bauarbeiten für den Öffi-Ausbau U2xU5, Stand: 18.12.2024
WienSchauen: Rekonstruktion Neustiftgasse 32-34: Wo einst die Wiener Werkstätte war, Stand: 12.12.2024
Wikipedia: Augustinbrunnen, Stand: 18.12.2024
WKO: 7., Neustiftgasse – Augustinplatz, Stand: 18.12.2024